Kapitel 26
Nat, 22. Juni 2009
Solange ein Zeuge im Zeugenstand ist, darf niemand mit ihm über seine Aussage sprechen, auch nicht seine Anwälte. Stern und Marta nicken meinem Dad vom Tisch der Verteidigung aus zu, und Sandy reckt eine kleine Faust, um ihm zu sagen, er soll durchhalten, aber keiner geht zu ihm. Mir missfällt das. Dass er von allen im Saal gemieden wird, spiegelt die Wirklichkeit der letzten Zeit zu genau wider, und so gehe ich rüber, um ihn zu fragen, ob er ein frisches Glas Wasser möchte. Er antwortet mit einem weiteren gleichgültigen Achselzucken.
»Alles klar?«, frage ich.
»Angeschlagen, aber noch nicht k. o. Er treibt mich durch den Ring.«
Ich sollte nicht darauf antworten, und wie könnte ich es auch? Ich sage dieselbe Dummheit, die er mir früher vom Spielfeldrand aus zurief, wenn meine Highschool-Baseballmannschaft hoffnungslos zurücklag.
»Lass dich nicht unterkriegen.«
»Wir werden sehen.« Er lächelt schwach. In den letzten Monaten ist er so unnahbar fatalistisch geworden, dass es mir oft Angst macht. Wer auch immer mein Dad war, er wird nie wieder der Alte sein, selbst wenn Zeus ihn in diesem Moment mit einem Donnerschlag befreien würde. Er wird nie wieder richtig zurück ins Leben finden. Er legt mir kurz eine Hand auf die Schulter und erklärt: »Ich geh pinkeln.«
Dieses Gespräch ist mehr oder weniger typisch für die letzten Monate. Ich habe nicht direkt aufgehört, mit meinem Dad zu reden. Ich sage nur so gut wie nichts mehr, was irgendwie von Bedeutung wäre, sogar im Vergleich zu den steifen Unterhaltungen, die wir früher führten. Ich bin sicher, dass ihm das aufgefallen ist, aber die Rechtslage lässt uns ja auch keine andere Wahl. Ich bin Zeuge in seinem Prozess und darf mit ihm weder über die Beweislage noch über den Fortgang des Verfahrens sprechen, und im Augenblick scheint er praktisch an nichts anderes mehr zu denken, und mir geht es ebenso. Das Schweigen kommt mir entgegen. Ich weiß nicht, ob mein Dad schuldig ist oder nicht. Falls ja, wird ein großer Teil von mir das niemals akzeptieren. Aber ich wusste gleich mit geradezu verlässlicher Intuition, dass der Tod meiner Mutter irgendwie mit seiner Affäre zusammenhing. Anna, die dieses Thema ungern ausführlicher erörtert, weil sie nicht zwischen mich und meinen Vater geraten will, hat mich mehr als einmal gefragt, warum ich mir dessen so sicher bin. Die Antwort lautet kurz gesagt, weil ich meine Mom kannte. Wie dem auch sei, ich glaube, dass mein Dad im Grunde nur eines von mir wissen will, nämlich was ich über ihn denke und, genauer ausgedrückt, ob ich ihn noch liebe. Manchmal habe ich das Gefühl, ich sollte ihm einen Post-it-Zettel reichen, auf dem steht: »Ich sag dir Bescheid, wenn ich's rausgefunden habe.«
Meinen Dad zu verstehen war nie einfach. Offenbar ist er mir gegenüber gern der große Unbekannte, eine Haltung, die mir, je älter ich wurde, immer weniger gefiel. Natürlich kenne ich ihn auf die schonungslose Art, wie Kinder ihre Eltern kennen, also ungefähr so, wie jemand einen Hurrikan erlebt, wenn er in dessen Auge steht. Ich kenne all seine unangenehmen Angewohnheiten - sein plötzliches Abgleiten mitten im Gespräch, als wäre ihm gerade etwas eingefallen, das wesentlich wichtiger ist als sämtliche Personen im Raum; sein Verstummen, sobald sein Gegenüber persönliche Dinge anspricht, und wenn es nur um so banale Dinge geht wie juckende Füße in Wollsocken; oder diese wichtigtuerische Art, die er im Umgang mit mir an den Tag legt, als wäre die Aufgabe, mein Vater zu sein, ebenso verantwortungsvoll wie das Hüten der Geheimcodes für sämtliche Atomwaffen der Vereinigten Staaten. Aber der Prozess, die Anklage, die Affäre, all das hat mir deutlich gemacht, dass ich meinen Vater im Grunde nicht richtig kenne.
Während ich versuche, mir auf das alles einen Reim zu machen, schwanke ich von einem Extrem ins andere. Manchmal fürchte ich, dass die nicht enden wollende Angst, die meinen Vater letztlich zum ausgebrannten Zombie gemacht hat, ihn irgendwann umbringt und ich innerhalb eines Jahres auch noch meinen zweiten Elternteil verlieren werde. Dann wiederum bin ich fürchterlich empört und wütend auf ihn und habe das Gefühl, dass er genau das bekommt, was er verdient hat. Doch natürlich ärgere ich mich meistens nur über die vielen Augenblicke, in denen ich nicht sicher bin, ob ich einen Fuß vor den anderen setzen kann oder ob die Autos auf der Straße auch weiter mit dem Erdboden verhaftet bleiben, weil sich so vieles in so kurzer Zeit verändert hat, dass ich nicht mehr weiß, was ich glauben soll.
»Nur noch ein paar Themen, Richter Sabich«, sagt Molto, als es weitergeht.
»Ganz wie Sie wollen, Mr Molto.« Es gelingt meinem Dad ein wenig besser, so zu klingen, als hätte er nichts dagegen.
»Schön. Ich möchte Sie als Erstes fragen, ob Sie in Ihrer Ehe mit Mrs Sabich glücklich waren.«
»Es war eine Ehe wie viele andere auch, Mr Molto. Wir hatten unsere Höhen und Tiefen.«
»Zu dem Zeitpunkt, als Ihre Frau starb, befanden Sie sich da gerade in einem Hoch oder in einem Tief?«
»Wir kamen miteinander aus, Mr Molto, aber ich war nicht besonders glücklich.«
»Wenn Sie sagen, Sie kamen miteinander aus, meinen Sie dann, dass es keinen Streit zwischen Ihnen gab?«
»Keinen Streit würde ich nicht sagen, aber auf jeden Fall hatte es in der Woche keinen großen Krach gegeben.«
»Aber Sie haben gesagt, dass Sie unglücklich waren. Gab es dafür einen besonderen Grund, Richter Sabich?«
Mein Dad lässt sich mit der Antwort einen langen Augenblick Zeit, sicher, um seine Wort abzuwägen, weil ich keine zehn Meter von ihm entfernt sitze.
»Es war einiges zusammengekommen, Mr Molto.«
»Zum Beispiel?«
»Na, zum Beispiel, dass meine Frau entschieden gegen meinen Wahlkampf war. Sie fühlte sich dadurch in einem Maße exponiert, das ich nicht nachvollziehen konnte.«
»Sie verhielt sich verrückt?«
»Im umgangssprachlichen Sinne des Wortes, ja.«
»Und Sie hatten das satt?«
»Ja.«
»Und war das einer der Gründe, weshalb sie sich drei Wochen vor ihrem Tod von Dana Mann haben beraten lassen?«
»Vermutlich.«
»Richter Sabich, trifft es zu, dass Sie sich mit dem Gedanken trugen, Ihre Ehe zu beenden?«
»Ja.«
»Und nicht zum ersten Mal, nicht wahr?«
»Richtig.«
»Haben Sie auch im Juli 2007 Mr Manns Rat eingeholt?«
Die beiden vollführen da einen behutsamen Tanz. Die Gespräche, die mein Vater mit Mann hatte, fallen unter das Anwaltsgeheimnis. Solange mein Dad nicht selbst davon anfängt, was er mit Dana besprochen hat, darf Molto nicht danach fragen, denn falls er meinen Dad oder Stern dazu zwingt, sich vor den Geschworenen auf das Anwaltsgeheimnis zu berufen, wäre das ein Verfahrensverstoß und könnte zur Einstellung des Verfahrens führen. Aber auch mein Dad muss sich vorsehen. Wenn er seine Gespräche mit Mann falsch wiedergibt oder auch nur bewusst einen irreführenden Eindruck entstehen lässt, wäre Dana verpflichtet, vor Gericht zu erscheinen und ihn zu korrigieren. Es war Dana im Zeugenstand anzusehen gewesen, dass er eine Heidenangst vor Molto und Jim Brand und der ganzen Situation hatte, obwohl er nur fünf Minuten befragt worden war, in denen er die zwei Treffen mit meinem Vater bestätigt und die Rechnungen identifiziert hatte, die er im September letzten Jahres und im Juli des vorletzten Jahres verschickt hatte, sowie die Barschecks, mit denen mein Vater die Rechnungen beglich.
»Das Gespräch mit Mr Mann im Sommer 2007 erfolgte nicht allzu lang, nachdem sie Mr Harnason gefragt hatten, wie es sei, jemanden zu vergiften, richtig?«
»Etwa zwei Monate später.«
»Und was geschah dann, Richter Sabich? Warum haben Sie Ihre Ehe nicht beendet?«
»Ich habe verschiedene Optionen abgewogen, Mr Molto. Ich habe Mr Manns Rat eingeholt und dann beschlossen, mich nicht scheiden zu lassen.«
Alle Beweise, die den Geschworenen vorenthalten bleiben werden, die Belege, die Sandy und Marta mir gezeigt haben - die Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten, die Aussagen von Zeugen, die meinen Dad mehrfach in verschiedenen Hotels gesehen haben -, lassen eher vermuten, dass er wieder zur Vernunft kam, die Affäre beendete und beschloss, bei meiner Mom zu bleiben. Ich hab mich noch nicht dazu aufraffen können, meinen Dad zu fragen, ob ich das richtig sehe. Das einzige Gespräch, das wir zu diesem Thema hatten, ist so ziemlich alles, was ich verkraften kann. Eigenartigerweise habe ich nie ernsthaft geglaubt, dass meine Eltern eine wunderbare Ehe führten oder miteinander glücklich waren, und mindestens einmal pro Jahr dachte ich, einer von ihnen würde einen Schlussstrich ziehen. Aber die Vorstellung, dass mein Dad heimlich in der Mittagspause irgendeine Dreißigjährige gevögelt hat? Widerlich.
»Aber in der ersten Septemberwoche 2008 suchten Sie Mr Mann erneut auf.«
»Richtig.«
»Und gehörte diesmal zu Ihren Optionen auch die, Ihre Frau zu vergiften, genau wie schon ein Jahr zuvor, als Sie mit Mr Harnason sprachen und danach erstmals Dana Mann aufsuchten?«
Ich sehe, dass Marta ihren Vater anstupst, aber Stern reagiert nicht. Ich vermute, er findet es offensichtlich, dass die Frage so absurd argumentativ ist, dass sie nicht mal einen Einspruch verdient. Als Marta mich darauf vorbereitete, wie es sein wird, meinen Vater im Zeugenstand zu sehen, erklärte sie, dass mein Dad als Richter einen besseren Eindruck machen wird, wenn er sich selbst behauptet, ohne dass sein Anwalt ihn zu sehr schützen muss. Und genau das tut er jetzt. Er verzieht leicht das Gesicht und sagt: »Selbstverständlich nicht.«
»Waren Sie, als Sie im September 2008 mit Mr Mann sprachen, fester entschlossen, Ihre Ehe zu beenden, als beim ersten Mal?«
»Ich weiß es nicht, Mr Molto. Ich war unsicher. Barbara und ich waren sehr lange verheiratet.«
»Aber Sie geben zu, dass Sie sich bereits im Juli 2007 von Mr Mann beraten ließen?«
»Ja.«
»Könnte man also korrekterweise den Schluss ziehen, dass Sie ihn erneut aufsuchten, weil Sie bereit waren, seinem Rat zu folgen und Ihre Ehe zu beenden?«
Geschickt wie ein Eisläufer kurvt Molto die ganze Zeit um die Frage herum, was genau mein Dad von Dana wissen wollte.
»Mr Molto, ich denke, dass ich für kurze Zeit entschlossener war, meine Ehe zu beenden. Danach sah ich die Dinge wieder etwas gelassener und überlegte es mir anders.«
»Hatte das nicht eher mit der Tatsache zu tun, dass Sie gerade mitten im Wahlkampf um einen Sitz im Obersten Bundesstaatsgericht steckten?«
»Vor dem 4. November 2008 hätte ich ganz sicher nicht die Scheidung eingereicht.«
»Hätte einen schlechten Eindruck gemacht, nicht wahr?«
»Mir ging es eher darum, dass ich zu dem Zeitpunkt mit einer Scheidung in die Schlagzeilen gekommen wäre, während das nach der Wahl niemanden mehr interessiert hätte außer meiner Familie.«
»Aber, Richter Sabich, Sie räumen doch wohl ein, dass manche Wähler nicht gerade begeistert gewesen wären, wenn sie erfahren hätten, dass Sie Ihre Ehe beenden wollten?«
»Das dürfte den Tatsachen entsprechen.«
»Wohingegen sie gewiss voller Mitgefühl wären, falls Sie urplötzlich Witwer würden?«
Mein Dad antwortet nicht. Er zuckt nur die Achseln und hebt eine Hand.
»Haben Sie Ihrer Frau gesagt, dass Sie an Scheidung dachten?«
»Nein.«
»Weil -?«
»Weil ich unentschlossen war. Weil meine Haltung sich nach dem Gespräch mit Mr Mann wieder geändert hatte. Und weil meine Frau ausgesprochen labil war. Sie konnte sehr, sehr wütend werden. Es hätte keinen Sinn gehabt, mit ihr darüber zu reden, ehe ich eine endgültige Entscheidung getroffen hatte.«
»Dann sahen Sie also diesem Gespräch mit ihr nicht gerade freudig entgegen, Richter Sabich?«
»Ganz und gar nicht. Es wäre extrem unangenehm geworden.«
»Könnte man dann vielleicht sagen, Richter Sabich, dass Ihnen durch den Tod Ihrer Frau gerade zu dem Zeitpunkt eine Konfrontation sowohl mit ihr als auch mit Ihren Wählern erspart blieb?«
Mein Dad verzieht wieder das Gesicht, halb schmerzlich, halb bekümmert, als wäre das alles einfach zu dumm, und versucht, den Eindruck zu erwecken, als wäre er nicht gerade in eine Falle getappt.
»Das könnte man sagen, wenn man unbedingt will, Mr Molto.«
»Alles in allem kam Ihnen der Zeitpunkt von Mrs Sabichs Tod ausgesprochen gelegen, nicht wahr?«
»Einspruch«, sagt Stern energisch.
»Das reicht«, sagt Richter Yee leise. »Anderes Thema bitte.«
»Also gut«, sagt Tommy wieder, bewusster als beim letzten Mal, und konsultiert erneut seine Notizen. Er wirft sich ein wenig in die Brust. Molto weiß, dass seine Trefferquote nach wie vor bestens ist. »Kommen wir etwas ausführlicher auf Ihren Computer zu sprechen.«
An dem Tag, als mein Vater erfuhr, dass gegen ihn Anklage erhoben werden würde - der 4. November 2008, ein Datum, das ich wohl nie vergessen werde, der Tag, an dem seine berufliche Karriere eigentlich ihren absoluten Höhepunkt erreichen sollte -, durchsuchte die Polizei von Kindle County unser Haus in Nearing. Die Beamten nahmen nicht nur beide Computer mit, sondern beschlagnahmten auch, offensichtlich weil sie nach Spuren von Phenelzin suchten, die gesamte Kleidung meines Vaters, sämtliche Gegenstände aus der Küche, jeden Teller, jedes Glas, jede offene Flasche, jeden Behälter im Kühlschrank oder in den Schränken sowie alles Werkzeug meines Vaters. Und selbst damit waren sie noch nicht zufrieden. Während der ersten Durchsuchung hatten sie im Keller einige Stellen bemerkt, die mein Vater wenige Monate zuvor mit Beton ausgebessert hatte - meine Eltern hatten immer Probleme mit Feuchtigkeit im Haus -, und die Polizisten kamen zurück, um die Wände mit Presslufthämmern aufzubrechen. Irgendwann kehrten sie mit einem weiteren Durchsuchungsbeschluss wieder und wühlten den Boden im Garten auf, weil einer der Nachbarn ausgesagt hatte, er habe meinen Vater etwa um die Zeit, als meine Mutter starb, dort graben sehen. Er hatte recht. An dem Tag, als Anna und ich zum Abendessen kamen, hatte er einen Rhododendron für sie gepflanzt. Die Staatsanwaltschaft begnügte sich nicht bloß damit, das Haus auf den Kopf zu stellen, nein, sie weigerte sich auch, irgendetwas von dem, was sie beschlagnahmt hatte, wieder herauszugeben, weshalb mein Dad monatelang praktisch keine Garderobe hatte, keinen PC und nicht mal einen Topf, um Wasser zu kochen.
Speziell der Computer war ein Streitpunkt, weil mein Dad, der häufig noch abends zu Hause arbeitete, regelmäßig Gerichtsdokumente auf seinen privaten Computer lud. Zahllose Entwürfe für Urteilsbegründungen waren darauf gespeichert, und bei vielen davon ging es um Berufungsverfahren, an denen die Staatsanwaltschaft von Kindle County beteiligt war, sowie jede Menge Memos zu Interna des Berufungsgerichts, in denen die Richter sozusagen die Hosen runterließen und sich unverblümt über Anwälte, Plädoyers und gelegentlich auch übereinander äußerten. Die Berufungsrichter liefen Amok, als ihnen klar wurde, dass das alles in die Hände der Staatsanwaltschaft gelangt war.
George Mason, der kommissarischer Chefrichter geworden war, wollte den Eindruck vermeiden, das Berufungsgericht versuche, meinen Dad zu schützen. Um seine Kollegen zu beruhigen, hätte er vor Gericht gehen müssen, aber da gab es einen Haken, den ich schon fast wieder amüsant fand: Es gab keinen Richter, der diesen Zwist beilegen konnte, da sich bereits alle Richter am Kammergericht geweigert hatten, im Prozess meines Vaters den Vorsitz zu übernehmen. Und selbst wenn ein Richter ernannt werden würde, hätte der Verlierer keine Möglichkeit, Berufung einzulegen, weil das Berufungsgericht selbst ja eine der streitenden Parteien war. Schließlich einigte sich Molto mit George darauf, dass die Staatsanwaltschaft die Festplatte kopieren und dann unter Aufsicht von George oder einer von ihm ernannten Person untersuchen würde, sodass keine vertraulichen Gerichtsdokumente eingesehen wurden. Dieselbe Absprache wurde bezüglich des Computers aus dem Amtszimmer meines Dads getroffen.
Nachdem man beide PCs auf diese Weise durchforstet hatte, wurden sie an Richter Mason übergeben und verblieben einen Monat lang Seite an Seite in dessen Amtsräumen, bis Richter Yee ernannt wurde. Während dieser Zeit durfte mein Vater Unterlagen von den beiden Festplatten holen, die er benötigte, um noch ausstehende Urteilsbegründungen zu schreiben oder seine Termine einzuhalten, aber nur, wenn George oder dessen Vertreter dabei waren und exakt protokollierten, welche Tasten er drückte. Mein Dad ging einmal hin und musste feststellen, dass er die Rückkehr in das Reich, über das er einst herrschte, unter diesen Bedingungen zu demütigend fand, um sie zu wiederholen. Danach willigte die Anklagevertretung ein, dass weitere Kopien von den PCs durch Abgesandte vorgenommen werden durften, mit denen sich sowohl Richter Mason als auch die Staatsanwaltschaft einverstanden erklärt hatte. Bei diesen Abgesandten handelte es sich dann entweder um mich oder, auf Richter Masons Vorschlag hin, um Anna, die er als ehemalige Referendarin meines Dads und als Computerspezialistin kannte und schätzte. Nachdem Yee ernannt worden war, entschied er zugunsten der Staatsanwaltschaft und ordnete an, dass beide Computer an sie übergeben werden mussten. Auf dem Computer aus den Diensträumen meines Dads war nichts von Belang - genau wie auf dem meiner Mutter. Doch der private PC entpuppte sich als eine Goldgrube für die Anklagevertretung, und sie schleppen ihn Tag für Tag in den Gerichtssaal. Er ist in rosa Folie eingeschweißt, seit Dr. Gorvetich im Dezember ins Berufungsgericht kam, um ihn abzuholen.
»Richter Sabich, einen Tag bevor Ihre Frau starb, entfernten Sie einige E-Mails auf Ihrem privaten PC, nicht wahr?«
»Nein, das hab ich nicht getan, Mr Molto.«
»Na schön«, sagt Tommy. Er nickt, als hätte er diese Antwort erwartet, und geht mit finsterem Blick ein wenig hin und her, wie ein Vater, der ein unartiges Kind tadeln will. »Ihr Internetprovider ist ClearCast, richtig?«
»Ja.«
»Nur damit wir alle das richtig verstehen: Wenn Ihnen jemand eine E-Mail schickt, geht die zunächst an den Server von ClearCast, und Sie laden sie dann über Ihr E-Mail-Programm auf Ihren privaten PC. Korrekt?«
»Ich verstehe nicht viel von Computern, Mr Molto, aber das hört sich richtig an.«
»Und laut Dr. Gorvetichs Zeugenaussage haben Sie Ihr E-Mail-Konto bei ClearCast so eingerichtet, dass E-Mails nach dreißig Tagen von dem ClearCast-Server gelöscht wurden, richtig?«
»Nichts für ungut, Mr Molto, aber um so etwas hat sich meine Frau gekümmert. Sie war promovierte Mathematikerin und verstand sehr viel mehr von Computern als ich.«
»Können wir uns dann darauf verständigen, dass Sie E-Mails von dem ClearCast-Server auf Ihren Computer zu Hause herunterluden und nicht auf den im Berufungsgericht?«
»Wenn ich Sie richtig verstehe, meinen Sie damit, dass ich, wenn ich im Gericht war, auf die Webseite von ClearCast ging, um meine privaten E-Mails einzusehen, und wenn ich zu Hause war, kamen diese E-Mails direkt auf das E-Mail-Programm in meinem PC und wurden dort abgespeichert.«
»Genau das wollte ich damit sagen. Und nach dreißig Tagen war das der einzige Ort, auf dem diese E-Mails verblieben, ist das richtig?«
»Da muss ich mich auf Sie verlassen. Aber es klingt richtig.«
»Haben Sie routinemäßig E-Mails von Ihrem PC zu Hause gelöscht?«
»Nein. Manchmal habe ich Gerichtsdokumente auf meinen privaten PC geschickt, und ich wusste nie im Voraus, was ich brauchen würde, deshalb hab ich die E-Mails meistens einfach draufgelassen.«
»Und vorhin haben Sie uns gesagt, dass Ihre Frau gelegentlich Ihren PC benutzte.«
»Ich habe gesagt, dass sie ihn manchmal kurz für Recherchen im Internet benutzte, weil er gleich neben unserem Schlafzimmer stand.«
»Mr Brand hat mich während der Pause an etwas erinnert. Hatten Sie denn nicht viele vertrauliche Informationen vom Berufungsgericht auf Ihrem PC?«
»Doch. Deshalb hatten wir ja zwei PCs zu Hause. Barbara war sich bewusst, dass sie weder meine Dateien noch meine E-Mails einsehen sollte. Aber das war ja auch nicht nötig, wenn sie nur kurz etwas im Internet suchte.«
»Verstehe«, sagt Molto. Er hat wieder das gleiche selbstzufriedene Lächeln aufgesetzt, das er immer mal wieder zeigt, wenn er eine Erklärung meines Dads zu glatt findet. »Also, Sie haben Dr. Gorvetichs Aussage gehört, dass er nach einer forensischen Auswertung Ihres Computers zu dem Schluss gelangt ist, dass etliche Mails von Ihrem PC gelöscht worden sind, und zwar, den Daten im Protokoll nach zu schließen, an dem Tag, bevor Ihre Frau starb. Haben Sie das gehört?«
»Ja.«
»Genau genommen hat er ausgesagt, dass die E-Mails nicht einfach nur gelöscht wurden, sondern dass eine Schredder-Software namens Evidence Eraser zum rückstandslosen Entfernen von Dateien heruntergeladen und eingesetzt wurde, sodass keine forensische Rekonstruktion dessen, was auf Ihrem Computer war, mehr möglich war. Haben Sie das gehört?«
»Ja.«
»Und Sie bestreiten, das getan zu haben?«
»Ja.«
»Wer wohnte außer Ihnen noch in Ihrem Haus, Richter Sabich?«
»Meine Frau.«
»Und Sie sagten, Sie und Ihre Frau hatten sich darauf verständigt, dass sie Ihre E-Mails niemals anrühren sollte?«
»Das ist richtig.«
»Ihre Aussage ergibt nicht viel Sinn, finden Sie nicht auch, Richter Sabich?«
»Offen gesagt ergibt das alles nicht viel Sinn, Mr Molto. Sie sagen, ich hätte die E-Mails auf meinem Computer mit einer Schredder-Software so gründlich gelöscht, dass sie sich nicht mehr rekonstruieren ließen, aber gleichzeitig soll ich mir nicht mal die Mühe gemacht haben, meine Recherchen über Phenelzin zu löschen, ganz zu schweigen davon, dass ich angeblich achtlos meine Fingerabdrücke auf dem Tablettenfläschchen hinterlassen habe. Deshalb, ja, Mr Molto, das alles klingt lächerlich.«
Das kann eigentlich nicht richtig als Gefühlsausbruch gelten, weil mein Dad das Ganze in einem ziemlich gelassenen Tonfall vom Stapel gelassen hat. Und er hat recht. Die Widersprüche in der Theorie der Anklagevertretung sind ermutigend. Zum ersten Mal hat er Molto wirklich den Schneid abgekauft. Tommy starrt meinen Dad an und sagt zu Richter Yee. »Ich beantrage, die Antwort zu streichen. Der Angeklagte wird noch Gelegenheit haben, eine abschließende Erklärung abzugeben.«
»Bitte, noch mal vorlesen«, sagt Yee zur Gerichtsschreiberin. Das macht die Sache für die Staatsanwaltschaft nur noch schlimmer, weil die Geschworenen nun die kleine Tirade meines Dads noch einmal zu hören bekommen. Und anschließend schüttelt Yee den Kopf.
»Er hat geantwortet, Mr Molto. Besser nicht fragen, was Sinn ergibt. Und, Richter Sabich -« Er spricht meinen Dad mit derselben Geduld und Höflichkeit an, die er schon die ganze Zeit an den Tag legt. »Bitte keine Plädoyers.«
»Verzeihung, Euer Ehren.«
Yee schüttelte den Kopf, um die Entschuldigung abzuwehren. »Angemessene Antwort, schlechte Frage. Viele gute Fragen, aber die nicht.«
»Ich stimme Ihnen zu, Euer Ehren«, sagt Molto.
»Okay«, sagt der Richter, »dann alle glücklich.« Der ganze Gerichtssaal findet diesen Ausspruch mitten in einem Mordprozess zum Schreien komisch, und der Richter, dem nachgesagt wird, dass er privat ein Witzbold ist, lacht am lautesten. »Okay«, sagt er, als das Lachen abklingt.
»Also, Richter Sabich, befanden sich auf Ihrem privaten PC E-Mails, von denen Sie nicht wollten, dass jemand anderes sie zu sehen bekam? Das heißt, ehe sie gelöscht wurden?«
»Wie gesagt, allerhand vertrauliche Gerichtsunterlagen.«
»Ich meinte, eher privater Natur.«
»Ein paar«, sagt mein Dad.
»Welcher Art?«
Das Erste, was mir in den Sinn kommt, sind seine Nachrichten an die Frau, mit der er was gehabt hatte. Auch die waren wahrscheinlich da, aber es gibt einen deutlicheren Beweis aus anderer Quelle.
»Zum Beispiel die Mails von Mr Mann, mit denen er meine Termine bei ihm bestätigte.«
»Befanden sich Mr Manns E-Mails Ihres Wissens noch auf Ihrem privaten PC, als dieser beschlagnahmt wurde?«
»Ich weiß, dass sie laut Aussage Ihres Sachverständigen nicht mehr drauf waren.«
»Dr. Gorvetich konnte die Mails sogar zeitlich eingrenzen und war somit in der Lage, festzustellen, dass sie mit Evidence Eraser entfernt worden waren.«
»Das hat er behauptet?«
»Sie bezweifeln das?«
»Ich denke, unser Sachverständiger wird seine Schlussfolgerung hinsichtlich der Verwendung einer Schredder-Software infrage stellen. Aber offensichtlich waren die Mails nicht mehr da.«
»Und Sie bestreiten, sie gelöscht zu haben?«
»Ich entsinne mich nicht, Mr Manns Mails gelöscht zu haben, aber ich hätte natürlich Grund gehabt, es zu tun. Ich weiß, dass ich nie irgendeine Schredder-Software heruntergeladen oder auf meinem Computer angewendet habe.«
»Wäre also Evidence Eraser nicht angewendet worden, hätte ein Ermittler bei der Durchsicht Ihrer E-Mails zu dem Schluss kommen können, dass Sie daran dachten, Ihre Frau zu verlassen?«
Jetzt verstehe ich, worauf Tommy hinauswill. Er wird argumentieren, dass mein Dad sozusagen mit Netz und doppeltem Boden arbeiten wollte und seinen Computer für den Fall keimfrei gemacht hat, dass die Behörden die Phenelzinvergiftung entdeckten. Doch um so was zu machen, hätte mein Dad schon sehr tief in Schwierigkeiten stecken müssen.
»Möglicherweise.«
»Möglicherweise«, sagt Molto. Er kommt auf einen anderen Punkt zu sprechen.
»Richter Sabich, wenn ich die Aussage, die Sie gegenüber der Polizei machten, richtig verstehe, sind Sie am 29. September morgens aufgewacht und fanden Ihre Frau tot neben sich. Korrekt?«
»Ja.«
»Und den ganzen Tag lang, genauer gesagt fast vierundzwanzig Stunden lang, verständigten Sie niemanden. Korrekt?«
»Ja.«
»Sie riefen nicht den Notarzt, der sie möglicherweise hätte wiederbeleben können?«
»Mr Molto, ihre Haut war kalt. Sie hatte keinen Puls.«
»Sie trafen selbst ein ärztliches Urteil und riefen nicht den Notarzt. Richtig?«
»Ja.«
»Sie verständigten weder Ihren Sohn noch irgendwelche Verwandte oder Freunde Ihrer Frau von deren Ableben, korrekt?«
»Nicht sofort.«
»Und nach dem, was Sie der Polizei erzählt haben, saßen Sie einfach einen ganzen Tag lang da und dachten über Ihre Frau und Ihre Ehe nach. Richtig?«
»Ich habe ein bisschen aufgeräumt, weil sie würdevoll aussehen sollte, wenn mein Sohn sie sah, aber ansonsten hab ich wirklich die meiste Zeit dagesessen und nachgedacht.«
»Und schließlich, praktisch einen Tag später, riefen Sie Ihren Sohn an?«
»Ja.«
»Und laut Nathaniels Aussage« - es erschüttert mich ein wenig, meinen Namen aus Moltos Mund zu hören - »haben Sie sich in dem Telefonat mit ihm gestritten, ob Sie die Polizei anrufen sollten.«
»Er hat es nicht als Streit bezeichnet, und ich würde das auch nicht tun. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, dass die Polizei verständigt werden müsste, und ehrlich gesagt, zu dem Zeitpunkt war ich nicht besonders erpicht darauf, Fremde zu sehen.«
»Wie viele Jahre waren Sie Staatsanwalt?«
»Fünfzehn.«
»Und da war Ihnen angeblich nicht klar, dass die Polizei bei einem ungeklärten Todesfall verständigt werden muss?«
»Für mich war es kein ungeklärter Todesfall, Mr Molto. Sie hatte hohen Blutdruck und Herzprobleme. Ihr Vater war ebenso gestorben.«
»Aber Sie wollten die Polizei nicht anrufen?«
»Ich war durcheinander, Mr Molto, und wusste nicht recht, was ich tun sollte. Mir war in letzter Zeit keine Ehefrau weggestorben.« Auf der Geschworenenbank wird gekichert, was ein wenig verwunderlich ist. Sterns Augenbrauen ziehen sich zusammen. Er will nicht, dass mein Dad derart salopp klingt.
»Also, Sie sagen, Ihre Frau hatte gesundheitliche Probleme. Aber sie war topfit, nicht wahr?«
»Das stimmt. Aber sie trieb Sport, weil sie wusste, dass sie genetisch vorbelastet war. Ihr Vater wurde kaum fünfzig.«
»Dann fällten Sie also ohne jede qualifizierte Unterstützung nicht nur das ärztliche Urteil, dass Ihre Frau tot war, sondern Sie bestimmten noch dazu die Todesursache.«
»Ich sage nur, was ich dachte. Ich erkläre, warum ich nicht in Erwägung zog, die Polizei anzurufen.«
»Es ging Ihnen selbstverständlich nicht darum, eine Obduktion hinauszuzögern.«
»Nein.«
»Es ging Ihnen nicht darum abzuwarten, bis die Magensäfte alle Spuren der Lebensmittel beseitigt hatten, die Sie Ihrer Frau zu essen gaben, damit sie mit dem Phenelzin interagierten, das Sie ihr im Wein verabreicht hatten?«
»Nein.«
»Und Sie sagen, dass Sie ein bisschen aufgeräumt haben, Richter Sabich. Gehörte zu diesem Aufräumen vielleicht auch, das Glas zu spülen, in dem sie am Vorabend das Phenelzin aufgelöst hatten?«
»Nein.«
»Aber wir haben nur Ihr Wort, dass Sie das Glas nicht gespült haben, in dem sich Spuren des Gifts befanden, das Sie Ihrer Frau einflößten, nicht wahr?«
»Wollen Sie darauf hinaus, dass es niemanden sonst gibt, der das bestätigen kann, Mr Molto?«
»Wir haben nur Ihr Wort, Richter Sabich, dass Sie nicht die Arbeitsplatte abgewischt haben, auf der Sie das Phenelzin zerstießen, oder die Geräte, die Sie dafür benutzten, nicht wahr?«
Mein Dad antwortet nicht mehr.
»Wir haben nur Ihr Wort, Richter Sabich, dass Sie diese vierundzwanzig Stunden nicht dazu genutzt haben, möglichst alles zu beseitigen, das beweisen könnte, wie Sie Ihre Frau vergiftet haben. Nur Ihr Wort, Richter Sabich, nicht wahr? Nur Ihr Wort.«
Tommy ist immer näher an meinen Dad herangetreten und steht jetzt ganz dicht vor dem Zeugenstand, versucht, meinen Dad mit Blicken einzuschüchtern.
»Ich habe verstanden, Mr. Molto. Nur mein Wort.«
»Ja«, sagt Tommy Molto, »nur Ihr Wort. Ihr Wort ganz allein.« Er fixiert meinen Vater noch einen Moment länger, ehe er zum Tisch der Staatsanwaltschaft zurückgeht, wo er seine Notizen zusammenschiebt und Platz nimmt.